Fehlende Inklusion in internationaler Zusammenarbeit der Schweiz

Vor sieben Jahren hat die Schweiz die UNO-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Dennoch werden Menschen mit Behinderungen noch immer zu wenig einbezogen in der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe – so das Ergebnis einer unabhängigen Analyse.

2006 hat die Generalversammlung der UNO die Rechte von Menschen mit Behinderungen in der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) festgehalten. Die UNO-BRK verbietet jede Form von Diskriminierung und definiert Behinderung als Teil der menschlichen Vielfalt. Menschen mit Behinderungen haben dieselben Rechte wie Menschen ohne Behinderungen und ihre gesellschaftliche Inklusion gilt es zu fördern. Das Übereinkommen enthält daher Bürgerrechte, politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Rechte.

Die UNO-BRK ist 2008 in Kraft getreten und zählt heute 182 Staaten, die sie ratifiziert haben. Die Schweiz hat sie 2014 ratifiziert. Die Vertragsstaaten müssen die damit einhergehenden Verpflichtungen in ihrer nationalen Gesetzgebung und mit ihren Mitteln umsetzen. 

Mässiges Zeugnis für internationale Zusammenarbeit der Schweiz

Die CBM Christoffel Blindenmission Schweiz hat die unabhängige Wissenschaftlerin und Beraterin sowie ausgewiesene Expertin für Inklusion Polly Meeks beauftragt, die Umsetzung der UNO-BRK durch die Schweiz zu untersuchen – mit einem Fokus auf die internationale Zusammenarbeit des Bundes. Ihr Factsheet «Disability inclusiveness of Swiss development and humanitarian aid» stellt der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe ein mässiges Zeugnis aus. Einige ausgewählte Resultate:

  • Übergreifende Strategie zur internationalen Zusammenarbeit 2021-2024: Im Februar 2020 hat der Bundesrat die Strategie zur internationalen Zusammenarbeit der Schweiz für die Jahre 2021 bis 2024 verabschiedet. Die Schweiz hat die UNO-BRK vor sieben Jahren ratifiziert, deshalb genügt es heute nicht mehr, Menschen mit Behinderungen in der gesamten Strategie lediglich zweimal als eine der «benachteiligten Bevölkerungsgruppen» zu erwähnen. Die UNO-BRK und damit die Rechte von Menschen mit Behinderungen müssen systematisch verankert und benannt werden – das ist derzeit nicht der Fall. Das Leitprinzip der Agenda 2030 «Niemanden zurücklassen» wird zwar in der Strategie genannt, aber auch diesem wird kaum Bedeutung beigemessen.
  • Richtlinien zum Thema Behinderung und internationale Zusammenarbeit: Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) hat keine Richtlinien zum Thema Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der internationalen Zusammenarbeit und humanitären Hilfe. Es gibt ein Leitdokument zum Leitprinzip der Agenda 2030 «Niemanden zurücklassen». Im Papier wird Behinderung zwar ausdrücklich als Ursache für Ausgrenzung genannt. Gleichzeitig werden – berechtigterweise – viele weitere Bevölkerungsgruppen genannt, die von Ausgrenzung bedroht sind. Mitarbeitende im Feld sind angehalten, jeweils eine oder zwei Gruppen als explizite Zielgruppen für Projektaktivitäten zu benennen. Dies bedeutet, dass bei vielen Projekten die Inklusion von Menschen mit Behinderungen gar nicht oder nicht ausführlich behandelt wird. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Menschen mit Behinderungen tendenziell übersehen werden, da sie aufgrund der zusätzlichen Barrieren, mit denen sie konfrontiert sind, oft weniger sichtbar sind als andere Bevölkerungsgruppen.
  • Partizipation von Menschen mit Behinderungen: Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen sind weder in der Schweiz noch im Globalen Süden an der Ausarbeitung, Umsetzung, Überwachung und Evaluation von Projekten der DEZA beteiligt. Dies erstaunt, sind diese Organisationen doch Expertinnen und Experten für ihre Inklusion.
  • Human Resources: Die DEZA hat keine Mitarbeitenden, die sich hauptamtlich mit dem Thema Behinderung befassen.
  • Reporting: Die Teams in DEZA-Projekten werden aufgefordert, die Ergebnisse von Evaluationen jeweils nach Zielgruppen aufzuschlüsseln (z. B. nach Gender). Es gibt jedoch keine spezifische Anforderung, Daten nach Behinderung aufzuschlüsseln, womit nicht klar wird, inwiefern die Projekte Menschen mit Behinderungen erreichen.
  • Kontrollmechanismen: Es bestehen keine systematischen Kontrollen, um zu verhindern, dass die Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe der Schweiz zu Aktivitäten führt, die gegen die UNO-BRK verstossen. Dieser Kontrollmangel ist vielleicht nicht überraschend: Es gibt in der Schweiz eine Reihe von Praktiken (wie die Institutionalisierung und psychiatrische Zwangsbehandlung von Menschen mit Behinderungen), die auf den ersten Blick wahrscheinlich gegen die UNO-BRK verstossen, jedoch in der Schweizer Innenpolitik fortbestehen.

Laut der Autorin der Studie befindet sich die Schweiz, trotz der Ratifizierung der UNO-BRK vor sieben Jahren, noch immer am Anfang ihres Weges. In ihrer derzeitigen Politik und Prozessen werde das Thema Behinderung nur am Rand berücksichtigt. Die Schweiz müsse noch grosse Anstrengungen unternehmen, um ihre Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe in Einklang mit der UNO-BRK zu bringen. Will die Schweiz in ihrer internationalen Zusammenarbeit auch das Leitprinzip der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung «Niemanden zurücklassen» ernst nehmen, muss sie die UNO-BRK als grundlegende Voraussetzung für alle ihre Strategien, Strukturen und Interventionen anerkennen.

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