Einsatz für mehr Inklusion in Kenia

Lucy Nkatha aus Kenia berät Menschen mit Behinderungen, schult Selbsthilfegruppen und sensibilisiert Verantwortungsträger. Sie ist ein Disability Rights Champion der Selbstvertretungsgruppe Kiengu Women Challenged to Challenge im County Meru in Zentralkenia. Massgeblich beteiligt gewesen ist sie auch am CBM-Projekt MINT. Lucy Nkatha lebt seit einer Polio-Erkrankung im frühen Kindesalter mit einer starken Gehbehinderung.

Wie sieht dein gewöhnlicher Arbeitstag aus? 

Wenn ich nicht früh aus dem Haus gehe, erscheinen bei mir bis zu zehn Personen am Tag und bitten mich um Rat wie zum Beispiel: Wo erhalte ich Hilfe für mein Kind, wie bekomme ich den amtlichen Behindertenausweis, oder wer ist in meinem Fall Verantwortungsträger. 

Auswärts helfe ich Kindern mit Behinderungen, die von ihrer Familie versteckt werden, nehme an Frauentreffen teil, vertrete Gruppen von Menschen mit Behinderungen bei Behörden oder sensibilisiere dörfliches Gesundheits- und Lehrpersonal, das Überweisungen vornimmt. An dörflichen Versammlungen orientiere ich über die Bedürfnisse von Kindern und Frauen mit Behinderungen; ich spreche dabei auch über Gewalt und Missbrauch, wie sich Teenager-Schwangerschaften vermeiden lassen und darüber, was nach Vergewaltigungen zu tun ist. 

Und einmal pro Woche haben wir unser Frauentreffen. Wir diskutieren und erarbeiten Lösungen insbesondere für das Betreuen von älteren Kindern mit schweren Behinderungen. 

Was ist deine Rolle im MINT-Projekt?

Ich arbeite eng mit dem CBM-Partner SPARK zusammen und mobilisiere Personen für die dörfliche Abwasserentsorgung. Gleichzeitig trainiere ich Selbsthilfegruppen, wie sie Lokalbehörden, Älteste, Dorfchefs und weitere verantwortliche Personen überzeugen können. Älteste entscheiden über die Weitergabe von Land und Gütern an die nächste Generation. 

Kannst du einige Beispiele nennen, die MINT umgesetzt hat?

Da wären zum Beispiel die Stärkung der Lebensgrundlagen wie durch Bewässerungstaschen, Wassertanks für Haushalte, Hör- und Mobilitätshilfen und Toilettensitze. Bei übergeordneten Besprechungen sind Gebärdendolmetscher beigezogen worden. Selbstvertretungsgruppen sind gestärkt worden, damit sie Behörden beraten können. Insgesamt ist das Bewusstsein der Bevölkerung in Meru zugunsten der Menschen mit Behinderungen gewachsen. 

Wie ist die Lage von Menschen mit Behinderungen in Kenia?

Die meisten Menschen mit Behinderungen sind sehr von Analphabetismus und Armut betroffen. Mädchen und Frauen mit Behinderungen sind zudem häufig sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Jungen und Männer hingegen werden in Kenia von Geburt an mehr geschätzt und respektiert. 

Die grössten Benachteiligungen und Stigmatisierungen erfahren Menschen, die gehörlos und blind sind, oder gehörlos und autistisch, sowie Personen mit geistiger Beeinträchtigung. Unsere Bildungssysteme sind nicht auf sie zugeschnitten, sie sind weniger sichtbar und werden daher eher zurückgelassen. Wo es allerdings Selbstvertretungsgruppen gibt, scheuen sich die Menschen, die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu verletzen. Die Präsenz solcher Gruppen ist spürbar. 

Was prägt dich aus deiner Kindheit?

Ich wuchs in einem Primarschulinternat für Waisenkinder auf. Die sanitären Anlagen waren für mich nicht zugänglich. Um nicht auf die Toilette zu müssen, verzichtete ich auf das Morgen- und das Mittagessen. Die im Internat arbeitenden Frauen waren weder ausgebildet noch in der Position, etwas zu ändern. Das motiviert mich noch heute, zu sensibilisieren und Lobbyarbeit zu betreiben, meist ehrenamtlich. Für Mädchen mit Behinderungen bilden unzugängliche Toiletten ein riesiges Hindernis. 

Ihr wart anfangs eher aktivistisch tätig. Warum habt ihr euch zu Advocacy hin entwickelt?

Mit dem Aktivismus war es so eine Sache: Vor den Gebäuden der Ministerien haben wir Slogans gerufen, Banderolen hochgehalten, Lieder gesungen, öffentliche Reden gehalten, also einfach demonstriert. Aber wir haben fast nie eine Audienz bei einer der verantwortlichen Personen bekommen. Sie dachten, wir würden nur Ärger machen, nie zufrieden sein, uns gerne beschweren, nicht kooperieren. Sie dachten, wir seien zerstritten und würden Kämpfe innerhalb unserer Bewegung austragen. Wir seien sozusagen ihr Feind. Sobald wir vor ihrem Gebäude auftauchten, verschwanden die verantwortlichen Personen. 

Seit mehr als zehn Jahren machen wir stattdessen Lobbyarbeit. Wir sprechen mit den zuständigen Behörden, erörtern Probleme mit ihnen und schlagen praxiserprobte Lösungen vor. Als Ergebnis ist Meru County seit 2017 der erste Landkreis in Kenia mit einem Behindertengesetz. Wir halfen bei der Formulierung dieses Gesetzes und danach bei der Geschlechter-Politik. Ferner hat die Regierung von Meru in unser SACCO-System – eine Art des gemeinsamen Sparens – investiert. Wir wählen unter uns jemanden aus, der unser SACCO verwaltet. Dank dieses Systems können Menschen mit Behinderungen Kredite erhalten, um sich eine Existenz aufzubauen.

Weltweit gehören Mädchen und Frauen mit Behinderungen zu den am meisten gefährdeten. Wie ist die Situation in Kenia?

Auch in meiner Region von Igembe im Landkreis Meru ist sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen weit verbreitet. In Meru haben sechs von zehn Mädchen und jungen Frauen mit Behinderungen sexualisierte Gewalt erfahren. Wegen Vergewaltigungen werden viele von ihnen in ihrer Kindheit schwanger – im Alter von 17, 16, 15, 14 und sogar 13 Jahren! Mädchen mit psychosozialen Behinderungen sind besonders gefährdet. Die Täter werden sehr selten nach dem Gesetz bestraft, weil die Justiz korrupt ist und der Täter oft nicht arm ist, sondern im Gegensatz zur betroffenen Familie über Einfluss verfügt.

Werden heute mehr Täter angezeigt?

Bis vor einigen Jahren wurde fast kein einziger Fall bei der Polizei gemeldet. Heute werden Vergewaltigungen und Schändungen gemeldet, ungefähr in der Hälfte der Fälle. Ein Erfolg unserer Sensibilisierungs- und Advocacy-Arbeit.

Wie genau habt ihr dies erreicht?

Zunächst haben wir die Dorfgemeinschaften geschult, was Familien im Falle einer Vergewaltigung oder Schändung tun sollten: die Kleidung nicht in eine Plastiktüte, sondern in Papier oder ähnliches Material einwickeln, damit die Spuren nicht zerstört werden. Dann unterstützen wir Mädchen oder junge Frauen dabei, zur Polizei zu gehen, und stehen ihnen zur Seite. Als Ergebnis sind drei Täter zwei Wochen lang in Polizeigewahrsam gewesen. Das hat jedem potenziellen Täter klar gemacht, dass die Opfer Unterstützung bekommen, seine Tat öffentlich wird und er selbst im Gefängnis landen kann.

Weshalb braucht es Frauengruppen?

Generell berühren viele Themen der Frauen kaum das tägliche Leben der Männer. Diese sind nicht wirklich interessiert an Menstruationshilfen, Wasch- und Sanitärtechnik, sicheren und sauberen Toiletten oder am Vergewaltigungsproblem. Sie konzentrieren sich vielmehr auf wirtschaftliche Stärkung und Befähigung. 

In einer geschlechtergemischten Selbsthilfegruppe werden die Frauenthemen nicht angesprochen. Daher gründeten wir Frauen eigene Selbstvertretungsgruppen. Durch die Sensibilisierungs- und Lobbyarbeit sind sich die Männer heute stärker der Notwendigkeit bewusst, die täglichen Lebensbedingungen von Frauen zu verbessern.

Wie ist die Zusammenarbeit mit der CBM?

Die CBM engagiert sich für den Einbezug von Menschen mit Behinderungen in ihr Programm und darüber hinaus. Sie bezieht sie ein von der Planung über die Umsetzung, die laufende Überprüfung, bis zur Beurteilung am Schluss. Die CBM geht voraus und setzt sich bei internationalen Gremien, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Lobbys dafür ein, dass sie Menschen mit Behinderungen einbeziehen. Diese Akteure sollten zu den Selbsthilfegruppen in den Dörfern gehen, um ein Gefühl für die Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen in Armutsgebieten zu bekommen. Die CBM kann hier als Brückenbauerin agieren.

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