Aargauer Zeitung: Für einen Tag sind die Kinder blind

11. Mai 2023

Aargauer Zeitung – Das Erlebnismobil der Christoffel Blindenmission macht Halt auf dem Pausenplatz der Primarschule in Jonen.

Blindheit links, Katarakt rechts. «Es esch mega schwerig, so öppis zgseh», hält die zehnjährige Julie zu ihren Schulkameradinnen blickend treffend fest. Die Viertklässlerin an der Joner Primarschule hat eine Brille auf der Nase, die eine Sehbehinderung simuliert. Auf dem linken Auge sieht sie damit gar nichts, auf dem rechten nur ganz verschwommen.

Jede und jeder der 15 Schülerinnen und Schüler der Klasse hat heute eine solche Brille auf der Nase. Die Sehbehinderungen variieren allerdings. Eifrig werden die Brillen deshalb im Klassenzimmer herumgereicht, bis alle einmal auf jeder Nase Platz genommen haben. Eine Riesengaudi für die ganze Klasse. Diese hat aber einen ernsten Hintergrund. «In der Schweiz sind rund 50'000 Menschen blind und 325'000 sehbehindert», wie Dave Gooljar von der Christoffel Blindenmission weiss.

17 Millionen Menschen leben mit dem Grauen Star

Er ist der Grund dafür, weshalb die Joner Primarschüler das Thema Blindsein in diesen Tagen einmal ganz anders erleben. Hauptrolle dabei spielt ein unscheinbarer Lieferwagen, der draussen auf dem Pausenplatz steht und zu dem es jetzt geht.

Alles ist verschwommen, es ist schwer, die Hand vor Augen auszumachen. Hell, dunkel, Farben sind alles, was das Auge durch die Scheiben der Brille noch wahrnimmt, die Gooljar jetzt nun vor dem Bus an alle aushändigt. Grauer Star im Endstadium. Weltweit leben rund 17 Millionen mit dieser eigentlich heilbaren Krankheit. «In der Schweiz wäre jemand mit diesem Schweregrad schon längst operiert worden», hält er fest.

Aufmerksam lauschen die Schülerinnen und Schüler seinen Worten, während er ihnen erklärt, wie blinde Menschen den Blindenstock einsetzen. Dann geht es in den Bus. Seit drei Jahren ist der gebürtige Birmensdorfer Gooljar Verantwortlicher für dieses Erlebnismobil der Blindenmission. Er tourt damit durch die ganze Deutschschweiz, um an Schulen Kinder und Jugendliche von der dritten bis zur sechsten Klasse für die Themen Blindheit und Sehbehinderung zu sensibilisieren. Das Projekt selbst gibt es seit rund zehn Jahren.

«Keine Angst, es hat keine Gespenster drin», meint er augenzwinkernd zu den Kindern, bevor die ersten den Schritt ins Ungewisse wagen. Nicht alle lassen sich davon beschwichtigen, ein Mädchen traut sich gar nicht erst in den Bus hinein. Für die, die sich aber trauen, eröffnet sich im Innern des Busses eine neue Welt. Eine Welt, in der die anderen der fünf Sinne – etwa der Tastsinn oder das Gehör – übernehmen müssen, damit man sicher durch den Rundlauf kommt.

Es ist eine verschwommene Welt, die Schülerin Marie bereits kennt. Das Mädchen leidet selbst an einer Sehbehinderung. Ihre Lehrerin Anna Tervus zögerte auch deshalb keinen Moment, als die Anfrage kam. «Ich finde es wichtig, dass die Kinder das Thema Blindheit nicht nur vom Hörensagen kennen, sondern es auch selbst einmal erlebt haben», sagt sie. «Vielleicht öffnet genau das den Blickwinkel.»

Auf spielerische Art Verständnis fördern

Auch Marie, die übrigens trotz Beeinträchtigung bestens in ihrer Klasse integriert ist, wagt sich in den Bus. Während die eine Hälfte der Klasse das Innere des Busses erkundet – zuerst mit Brille, dann ohne –, beschäftigt sich die andere mit diversen Posten zum Thema in der Aula. «Ich finde es cool, dass wir mal schauen können, wie sich andere fühlen», sagt Schüler Leandro. «Oregano!» ruft sein Schulkamerad Dean dazwischen.

Die beiden sind gerade an jenem Posten, an dem sie mit verbundenen Augen Gewürze erriechen müssen. Und die zwei Jungs sind echte Experten darin. Ein Gewürz nach dem anderen wird abwechslungsweise errochen. Ein paar Meter weiter spielen ein Mädchen und ein Junge Fussball. Dank Klangball funktioniert das schon ganz gut - und macht noch mehr Spass.

Genau diese Verbindung von Spiel, Spass und ernstem Hintergrund scheint das Erfolgsrezept des Erlebnismobils zu sein. «Viele sagen, es wäre lässig», so Gooljar, der unterdessen schon bei vielen Schulklassen zu Besuch war. «Aber am Schluss sagen sie doch: Zum Glück bin ich nicht blind.» Und sind dankbar, die Augenbinde oder Brille wieder auszuziehen.

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